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REZEPTION DES DEUTSCHEN ZIVILRECHTS IM ALTEN CHINA

发布者:admin_zdfxy   发布时间:2007年12月06日 00:00   

REZEPTION DES DEUTSCHEN ZIVILRECHTS

IM ALTEN CHINA

                                                  von Professor Dr. SHAO Jiandong, Nanking[1]

Als das Deutsche Reich am 18.8.1896 des Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft setzte und somit eine neue Epoche des Zivilrechts einleitete, stürzte sich China immer tiefer in eine halbkoloniale und halbfeudale Gesellschaft. Mit dieser gesellschaftlichen Verwandlung ring sich das chinesische Rechtssystem, des seit einigen Jahrtausenden währte, auch an aufzulösen. Gleichzeitig drangen die modernen westlichen Zivilrechtsgedanken und Zivilrechtssysteme in China ein. Das moderne Zivilrecht wurde aus dem Westen eingefohrt und rezipiert.

Welche Rolle spielte in diesem Rezeptionsverfahren das jüngere deutsche BGB? Warum wurde des deutsche BGB vorgezogen und in grösserem Umfang aufgenommen, ohne dass die deutsche Seite an der Arbeit mitgewirkt hatte? Ist das rezipierte deutsche Recht denn auch tatsächlich zu lebendigem Recht geworden? Wie soil man heute die, se Rezeptionsbewegung bewerten? Der Autor wird sich im folgenden mit diesen Fragen beschAftigen.

Phasen der Rezeption

Die Notwendigkeit, das alte chinesische Recht zu reformieren und des westliche Rechtssystem einzuführen, ergab sich sowohl aus innenpolitischen Bedürfnissen als auch aus der aussenpolitischen Entwicklung. Man sah nach einer Reihe von Zusammenstössen mit dem Westen allmählich ein, dass man mit der westlichen Technik allein China nicht mehr retten könne; wichtiger sei die Reform des politischen und rechtUchen Systems. Die Einfohrung des westlichen Rechtswesens wurde deshalb auf die Tagesordnung gesetzt. Aussenpolitisch hatte man die Absicht, mit der Rechtsreform die von imperialistischen Kolonialmächten seit dem Ersten Opiumkrieg (1840) auferlegten ungleichen Verträge, insbesondere die Exterritorialität, zu beseitigen. So machte 1902 der Kaiserhof den Beschluss der Rechtsreform bekannt, der von Grossbritannien als erste Kolonialmacht positiv bewertet wurde. Im chinesisch-britischen Vertrag zur Fortsetzung des Handels und Schiffsverkehrs" vom 5. September 1902 wurde die folgende Vereinbarung als Art. 12 verankert: 'Da China den dringenden Wunsch ausgedrückt hat, sein Rechtssystem zu verbessern und in Einklang mit dem westlicher Nationen zu bringen, wird Grossbritannien jede Unterst0tzung for diese Verbesserung gewähren; Grossbritannien wird ebenfalls bereit sein, auf seine exterritorialen Rechte zu verzichten, wenn sichergestellt ist, dass der Zustand der chinesischen Gesetze, die Vorbereitung für ihre Anwendung und andere Erwägungen den Verzicht auf die exterritorialen Rechte zulassen können."1 Mit den gleichen Versprechungen folgten USA und Japan im Jahr 1903, Portugal in 1904 in ihren Handelsverträgen mit China.2 Diese Zusagen von den Kolonialmächten hatten ohne Zweifel den Kaiserhof dazu veranlasst,die Schritte der Rechtsreform zu be- schleunigen.

Im September 1907 wurde eine Kodifikationskommission gegründet, die mit der Aufgabe beauftragt wurde, ein Bürgerliches Gesetzbuch  auszuarbeiten.  Die Kommissiün setzte sich zum Ziel, die allgemeinen Zivilrechtsgrundsätze der westlichen Länder zu transplantieren und die neuesten, modernsten Rechtsprinzipien und Rechtsnormen einzuühren. Gleich- zeitig müssten aber chinesische Sitten und Gebräuche, Gewohnheiten und Gepflogenheiten auch hinreichend berücksichtigt werden.3 1908 wurde der Japaner Matsuoka Yoshimasa als Berater engagiert und mit der Ausarbeitung des Allgemeinen Tells, des Schuldrechts sowie des Sachenrechts beauftragt. Die belden letzteren Bücher (Familien- und Erbrecht) wurden wegen ihrer Verflechtung mit der traditionellen Ethik anderweitig entworfen. Im September 1911 wurde der "Entwurf eines  Zivilgesetzbuches  der  Da-Qing- Dynastie" (im folgenden "Der Erste Entwurf "genannt) fertiggestellt. Dieser Entwurf bestand aus fünf Büchern, 37 Abschnitten und zählte insgesamt 1569 Paragraphen.

Vergleicht man das Inhaltsverzeichnis dieses Ersten Entwuffes mit dem des deutschen BGB, so sind dessen Einflüsse unübersehbar. Der Erste Entwurf hatte auch den Weg der getrennten Kodifikation zwischen einem Zivilgesetzbuch und einero Handelsgesetzbuch eingeschlagen; wie der deutsche Gesetzgeber ha tte er keine  Handelsrechtsnormen  enthalten. Zum anderen hatte der Erste Entwurf die Pandektensystematik des deutschen BGB völlig Übernommen. Er enthielt nicht nur auch die fünf gleichnamigen Bücher; son- dern die Reihenfolge dieser Bücher war auch identisch. Darüber hinaus wurden die gesamte Begriffssystematik und viele konkrete Begriffe des deutschen BGB rezipiert. Schliesslich wurden sogar viele einzelne Vorschriften unmittelbar übernommen. So war §.216 des Ersten Entwurfes vö11ig identisch mit dem § 165 des deutschen BGB.

Bemerkenswert ist es, dass bei der Fertigstellung des Ersten Entwurfes kein deutscher  Wissenschaftler  mitgewirkt hatte. Man vermutet, dass die kurze Lehrtätigkeit der deutschen Juristen an der 1909 von den chinesischen und deutschen Regierungen gemeinsam gegründeten und von Deutschen betriebenen Fachhochschule für Rechtswissenschaften in Tsingtau dazu beigetragen habe, des deutsche Recht in China populär zu machen.4 Das Kaiserreich ging in der Revolution 1911 unter, ohne dass der Erste Entwurf noch veröffentlicht oder verkündet worden ware. Nach der Gründung der Republik China wurde jedoch die Kodifikation fortgesetzt. 1912 wurde eine neue Kodifikafionskommission eingerichtet, die sichtrotz der mehrfachen Umbenennungenmit der Überprüfung und Verbesserung der kaiserlichen Gesetze bzw. Entwürfe sowie mit der Untersuchung der Sitten und Gepfiogenheiten in verschiedenen Landesteilen beschäftigte. Dieser Kommission gehörten seit 1916 der Franzose G. Padoux und zwei japanische Gelehrte, ferner seit 192t der französische Professor J. Escarra, an.5

Die Tätigkeit der Kodifikationskommission ging anfangs nur langsam voran. Wegen aussenpolitischer Ereignisse wurde das gesetzgeberische Vorgehen allerdings beschleunigt. Zwischen 1921 und 1922 fand die Washingtoner Konferenz statt, an der die chinesische Delegation von den 8 anwesenden Kolonialmächten verlangte, die exterritorialen  Privilegien  aufzugeben. Gemäss einem Beschluss wurde eine Kommission eingesetzt, die aus den Vertretern der einzelnen Länder bestand und mit der Aufgabe beauftragt wurde, die exterritoriale Praxis in China zu untersuchen sowie die Gesetze, des Gerichtssystem und die Art und Weise der Rechtsanwendung in China auszuloten. Dieser Beschluss gab offensichtlich Anstoss zu rascherer Kodifikation.

Am 23. November 1925 wurde der Zweite Entwurf veröffentlicht. Bei der Fertigstellung dieses Entwurfes wurde der Erste Entwurf zugrunde gelegt. Zivil-und Handelssitten in einzelnen Provinzen wurden weitgehend berücksichtigt. Die neueren Gesetzbücher von anderen Ländern wurden als Vorbilder herangezegen. Jedoch wurde dieser Zweite Entwurf auch nicht Gesetz. Die Gründe hierfür bestanden einerseits darin, dass die Kolonialmächte ihr Versprechen zur Aufgabe ihrer exterritorialen Rechte -auch nach der Einfohrung der Gesetze nach ihrem Muster--oftensichtlich gar nicht einlösen wollten.6 Enttäuscht und entmutigt von dieser Tatsache, verlor die chinesische Regierung den Willen, den Entwuff gesetzgeberisch zu vollenden. Andererseits stürzte sich das Land in immer tiefere innenpolitische Kämpfe. Das Parlament wurde aufgelöst. Objektiv war es deshalb auch nicht mög- lich, den Zweiten Entwurf durch das legislative Verfahren als Gesetz zu verabschieden. Es blieb also beim Entwuff. Allerdings forderte das Justizministerium der Zentralregierung im November 1926 in einem Bescheid alle Gerichte auf, bei der Rechtsprechung  diesen  Entwurf  als Rechtss&tze anzuwenden.7

Im zweiten Entwurf wurde nicht nur die Pandektensystematik und die gesamte Begriffsbildung, die dem Ersten Entwurf zugrunde gelegen hatte, fortgeührt. Auch viele einzelne Vorschriften wurden unverändert beibehalten. Er enthielt auch keine Handelsrechtsnormen. Der Zweite Entwurf wurde also weitergehend in aller Hinsicht yom deutschen BGB beeinflusst. Eigentlich hatte die Kodifikationskommission den Willen, die politischen Gedanken der republikanischen Regierung in das Gesetzeswerk hineinzuarbeiten und den Ersten Entwurf grundlegend zu verbessern. Zu diesem Zweck hatte die Kommission auch zahlreiche Kodifikationen von anderen Landern als Vorbilder herangezogen.

Bei der gesetzgeberischen Tatigkeit wurden diesmal ausser japanischen Rechtsgelehrten beide Franzosen als Rechtsberater eingestellt. Ebenso wie bei der Ausarbeitung des Ersten Entwurfs gab es bei der Fertigstellung des Zweiten Entwurfs abet keinerlei Mitwirkung von deutscher Seite.

1927 gründete die Nationalregierung in Nanjing ein Rechtsamt, des sich mit der Ausarbeitung und Verbesserung der Gesetzesentwürfe beschäftigte. Im Dezember 1928 wurde der Gesetzgebungshof (Lifa yuan) eingerichtet, dem seit Januar 1929 eine Kommission for Zivilgesetzgebung unterstand. Diese Kommission arbeitete nacheinander die einzelnen Bücher aus, die zwischen 1929 und 1931 jeweils angenommen und in Kraft gesetzt wurden. Dies war des erste Bürgerliche Gesetzbuch in der chinesischen Geschichte (im folgenden als CBGB bezeichnet).

Die Kommission for Zivilgesetzgebung konnte bei der Ausarbeitung der einzelnen Bücher den legilativen Prinzipien folgen, die von der politischen Konferenz der Guomindang im voraus bestimmt worden waren. Selbstverständlich konnten diese Prinzipien an den einzelnen Rechtsvorschriften nicht spurlos vorbeigehen. Außerdem hatte auch die Kommission diesmai in groesem Umfang die Zivil-und Handelssitten untersucht, geordnet und in das Gesetzeswerk verarbeitet. Dadurch versuchte man, des Gesetzbuch weitgehend den chinesischen Verhältnissen anzupassen. Gleichzeitig ist es jedoch nicht zu übersehen, dass diese Zivilgesetzgebung nichts anderes bedeutete als eine Fortsetzung der unvollendeten spätkaiserlichen und frührepublikanischen Werke. Tatsachlich wurden bei der Ausarbeitung des CBGB die belden Entwürfe auch zugrunde gelegt. Obwohl die Kommission zahlreiche andere fremde Kodifikationen, u. a. des Schweizerische Zivilgesetzbuch yom 1912, des Schweizedsche Obligationenrecht von 1881/1911, des russische BGB vom 1922, des japanische BGB und  HGB, das türkische Obligationenrecht und  HGB  (1926)  sowie den französischitalienischen Entwurf eines gemeinsamen Obligationenrechts yom 1927 herangezogen hatte, waren die Einflüsse des deutschen BGB doch massgeblich. Dies findet seinen Ausdruck vor allem in der dem deutschen BGB eigenen und vom Ersten  und  Zweiten  Entwurf  übernommenen  Pandektensystematik des CBGB. Auch die Begriffsbildung und viele konkrete Vorschriften  wurden  weitgehend  vom deutschen BGB ausgeprägt. 8

Diese Tatsache bedeutet jedoch nicht, dass des CBGB des deutsche BGB einfach en bloc kopiert hätte. Vielmehr war das CBGB eine neue Kodifikation mit ihrer eigenen Schöpfung. Es hatte nicht lediglich das deutsche BGB als Vorbild über- nommen, sondern auch andere fremde Gesetzbücher herangezogen, um auf diese Art und Weise die neuesten Rechtsgedanken und die modernsten Rechtsinstitute  einzuführen.  Bezeichnenderweise hatte es z. B. nicht wie Deutschland, Frankreich und Japan die getrennte Kodi- fikation zwischen Zivil-und Handelsrecht gewählt, sondern einen eigenen Mittelweg der Einheitskodifikation yom Zivil- und Handelsrecht eingeschlagen. Es wurde nur ein Zivilgesetzbuch, nicht darüber hinaus noch ein Handelsgesetzbuch kodifiziert. Andererseits enthielt das Zivilgesetzbuch lediglich allgemeine Grundmateden des Handelsrechts; besondere Gebiete wie die Handelsgesellschaft, die Wertpapiere, der Seehandel und der Konkurs, wurden ausgeklammert. Dieser eigenartige Mittelweg der Kodifikation gait lange Zeit als wissenschaftlich; dessen Wirkungen reichen sogar bis in die Gegenwart. Nicht zu Unrecht bezeichnete man des CBGB deshalb als eine "Schöpfung über die Zeit hinaus" .9

Darüber hinaus hatte das CBGB weder die auslandischen Gesetze einfach übernommen, noch hatte es zu eng an seine Vorbilder gehalten. Vielmehr war es seine selbstandige Durcharbeitung" 10.  Wie gross und deutlich die Einflüsse des deutschen und schweizerischen Rechts auch waren, beschränkten sie sich auf die er- sten drei Bücher, insbesondere die ersten

 beiden. Im Familien- und Erbrecht überwogen hinsichtlich der Systematik die Einflüsse des japanischen Rechts, hinsichtlich der Begriffe und der einzelnen Bestimmungen  die  des  franzüsischen Rechts. Selbst in den ersten beiden Büchern wurde des deutsche und schweizerische Recht nicht einfach kopiert; es war vielmehr eine durchgearbeitete Neufassung bzw. Verbesserung. "Bei der Be- schäftigung mit dem chinesischen BGB wird die deutsche Wissenschaff manche ihrer nach Schaffung des deutschen BGB gemachten    Verbesserungsvorschläge verwirklicht wiederfinden."11

Schliesslich war des CBGB auch nicht "total verwestlicht", wie man es ihrn häufig vorwarf; vielmehr hatte es die chinesischen Traditionen mit ihrer gressen Fü11e von  Zivilund  Handelssitten  und gepflogenheiten hinreichend berücksichtigt. Angesichts der Tatsache, dess China eine riesige Fläche und zahlreiche Nationalitaten mit diversen Sitten und Gebräu- chen hat, wurde im CBGB der im Ersten und Zweiten Entwurf begründete Rechtssatz fortgeführt: "Bei Zivilsachen richtet es sich, wenn des Gesetz keine Vorschrift enthält, nach Gewohnheiten; fehlt eine Gewohnheit, richtet es sich nach Rechtssatzen." Dieser Rechtsgrundsatz lieferte far die Anwendung der Gewohnheiten eine allgemeine Rechtsgrundlage. Ausserdem enthielten viele Rechtsvorschriften im Sachenrecht die Regel, dass des Gewohnheitsrecht dem Gesetzesrecht vorgeht. Der Anwendung von Gewohnheiten wurde dadurch Tor und Tür geöffnet. Schliesslich zeichnete sich des Gesetzbuch auch durch manche typisch chinesische Kul- turmerkmale aus, so die schuldnerfreund- liche Haltung und die Bestimmungen über des Dian.

Ebenso bemerkenswert war die Tatsache, dess es bei der gesamten Gesetzgebungsarbeit der Kommission für Zivilrecht keine Mitwirkung von deutscher Seite ge- geben hatte. Weder ware jemand auf der offiziellen oder amtlichen Ebene nach China zum Zweck der Rechtsberatungen entsandt worden, noch hätte sich jemand aus dem nichtstaatlichen, privaten oder akademischen Kreis an der Kodifikation beteiligt. In der amtlichen deutschen Berichterstattung wurde auf die Kodifikation in China nicht einmal hingewiesen. Die deutsche Rechtswissenschaft hatte während des ganzen Vorganges auch nicht einmal davon Kenntnis genommen.12

Ursachen der Rezeption deutschen Rechts

Wenn im gesamten Vorgang der chinesischen Zivilgesetzgebung die deutsche Seite nicht mitgewirkt, wenn die deutsche Rechtswissenschaft davon  gar  keine Kenntnis genommen hatte, so muss man sich fragen, warum die chinesischen Zivilgesetzgeber das deutsche Recht vorgezogen hatte. Welche waren also die Gründe, die die Rezeption des deutschen Zivilrechts bestimmt hatten?

Als sich China mit der westlichen Rechtskultur auseinanderzusetzen anfing, wusste man nicht um den Unterschied zwischen dem kontinental-europäischen und dem angloamerikanischen Rechtskreis.  Ins Chinesische übersetzt wurden sowohl continental-europäische als auch angloamerikanische Gesetze und rechtswis- senschaftliche Werke. In den Berichten an den Kaiser wurde vorgeschlagen, vom kontinental-europäischen wie yom angloamerikanischen Rechtswesen zu lernen. Die fünf kalserlichen Beamten hatten schliesslich nicht nur Japan und Deutschland, sondern auch Grossbritannien und USA besucht, um das fremde Politik-und Rechtswesen zu studieren. Die Rezeption vor allem des deutschen Zivilrechts bedeutete jedoch, dass sich China an die kontinental-europaischen Vorbilder  halt und auf das angloamerikanische Recht verzichtet. Welche Gründe hatten diesen Schritt veranlasst?

In erster IJnie müsste die chinesische Tradition die entscheidende Relle gespielt haben. China kennt seit Jahrtausenden ein geschriebenes Recht. Es war hier üblich, gesetzte Gesetze oder Dekrete zu erlassen. Dies war insofern vergleichbar mit den kontinentaleuropaischen Ländern mit ihren vollständigen und wohlgegliederten Koditikationen. Im Gegensatz dazu bestand des angloamerikanische Recht vor allem in Fallen, die kompliziert und wenig übersichtlich waren. Von dieser kulturellen Tradition her empfahl es sich für chinesische Gesetzgeber, das kodifizierte Zivilrecht des europäischen Kontinents als Vorbild heranzuziehen. Diese Erscheinung wird von machen Wissenschaftlern generell als "Lernfaulheit" bezeichnet.13 Wenn zu der Zeit dem chinesischen Gesetzgeber das Code Civil, des japanische BGB und des deutsche BGB als greifbare Vorbilder zur Verfügung standen, dann erübrigte sich die Mühe, des angloamerikanische Fallrecht zu studieren.

In diesem Zusammenhang steht auch eine andere Frage, nämlich die Art und Weise des  Denkens.  Der  kontinental-europäischen Rechtskultur liegt eine deduktive Denkweise zugrunde. Es wird graber Wert auf die Begriffe und deren inneren Zusammenhang  sowie  auf  die  prazise Schlussfolgerung gelegt. Demgegenüber zeichnet sich das anglo-amerikanische Recht mehr durch das induktives Denken aus. Das deduktive Denken entspricht in grösserem Masse  der  traditionellen Denkweise der Chinesen.

Darüber hinaus war hierfür die Beeinfiussung veto  Nachbarland  Japan  auch massgeblich. Einer der wichtigsten Leitgedanken  bei  der  spätkaiserlichen Rechtsreform bestand darin, von Japan zu leman. Man identifizierte sich mit Japan. Japan war das Musterland überhaupt, von dem China lernen muss. Nicht nur wegen der geographischen Nähe, sondem auch wegen der kulturellen und sprachlichen Verwandtschaft, und nicht zuletzt auch we- gen der Kostengünstigkeit empfahl es sich for China, des japanische Rechtswesen zuübernehmen. Dieses war seinerseits jedoch nichts anderes als europäisches, insbesondere deutsches Recht. Übemahme des japanisc, hen Rechts bedeutete im Endeffekt also Übernahme des deutschen Rechts. Wenig Mühe, viel Erfolg.

Schliesslich dürfte bei der Entscheidung auch die Rücksicht auf die kaiserliche Hoheit eine Rolle gespielt haben. Die USA waren ein neuer, demokratischer Staat. In Grossbritannien waren der Macht des Monarchen Grenzen gesetzt. Demgegenüber waren Japan und Deutschland aufstrebende Wirtschaffs-und Militärmächte. In belden Ländern existierten politisch wie wirtschaftlich grosse Bereiche feudaler Überreste; beide Länder hatten eine militaristische Tradition. Für China waren Japan und Deutschland geradezu beispielhaft for ein "wohlhabendes Reich mit einem starken Militär". Es verwunderte nicht, dass Dai Hongci -- einer der Minister, die die Kolonialmächte besuchten --, sobald  in  Deutschland  eingetroffen, meinte, Deutschland "ähnele China am meisten", und schlug dem Kaiserhof vor, "von Deutschland zu lernen, wes sehr dringend ist und keine Verzagerung duideC". 14 Auch Yuan Shikai äusserte sich klar dazu: "Von allen Ländern ähneln Deutschland und Japan in ihrem politischem System am meisten unserem Reich."15 Zai Ze sprach dafür, des geltende Recht der monarchischen Länder zuübernehmen. Wenn sich die machthabenden Beamten mit Deutschland und Japan identifizieren konnten, dann war es nur konsequent, des deutsche und japanische Rechtswesen zu rezipieren.

Nach Paul Keschaker sei die Rezeption eines fremden Rechts keine "Qualitätsfrage",  sondern  eine  "Machtfrage".  Er schrieb, dass die Rezeption "die Folge einer wenigstens geistigen und kulturellen Machtstellung des rezipierten Rechts, einer Machtstellung, die wiederum dadurch bedingt ist, dass dieses Recht dasjenige einer starken politischen Macht ist, sei es, dass diese Macht noch aktuell besteht, sei es, dass wenigstens eine lebendige Erinnerung an sie und ihre Kultur vorhanden ist." 16 Zu fragen bleibt nun, ob die Rezeption des deutschen Rechts in China eine Qualitätsfrage oder eine Machffrage war. Als zwischen Ende 1905 und Anfang 1906 die chinesische Delegation mit Dai Hongci an der Spitze Deutschland besuchte, fand er Deutschland sehr bekannt vor und machte den dringenden Vorschlag, von Deutschland zu lernen. Zu der Zeit war Deutschland bereits zur grössten Industrie- und Militärmacht in Europa aufgestiegen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung trat auch das deutsche Nationalbewuestsein immer deutlicher hervor. Auf der  internationalen  Ebene  verfolgte Deutschland die sogenannte "Weltpolitik" und wollte sich mehr internationalpolitische Mitentscheidungsrechte erstreiten. Als 1907 die Kodifikationskommission mit der Ausarbeitung des Ersten Entwurfs anting, dürfte Deutschland mit seiner Wirtschafts- und Militärmacht sowie dessen aufstrebender Rolle in der Welt nicht spurlos an den chinesischen Beamten und Gesetzgebem vorbeigegangen sein. Man konnte sich leicht mit Deutschland identifizieren. In Deutschland sah man das Vorbild. Dies würde für eine Rezeption deutschen Rechts als "Machtfrage" sprechen. M. E. hatte man jedoch hierbei nicht die "Macht" Deutschlands im Auge. Denn wenn lediglich die Macht ausschlaggebend sein sollte, hätte China auch andere Rechtsordnungen übernehmen kannen. Auf der politischen Bühne der Welt konnten  sich  Groesbritannien,  Frankreich, Russland und die USA in jeder Hinsicht mit Deutschland aufnehmen.

Wenn die "Macht" Deutschlands bei der Ausarbeitung des Ersten Entwurfes an den chinesischen Beamten und Gesetzgebern noch nicht spurlos vorbeigegangen war, so konnte die Gesetzgebungstatigkeit zum Zweiten Entwurf am Anfang der Republikzeit mit der "Macht" Deutschlandsüberhaupt nichts zu tun haben. Im Ersten Weltkrieg ging des deutsche Reich unter. Nach dem Krieg musste Deutschland riesige Reparationen zahlen. Es war ein Land mit wirtschaftlichen Depressionen und Messenarmut. Deutschland war keine "Macht" mehr. Auch intemationalpolitisch spielte es keine grosse Rolle mehr. Die Ubernahme deutschen Zivilrechts zu dieser Zeit war offensichtlich alles andere als eine "Machtfrage".

Vor  dem  Ersten  Weltkrieg  besetzte Deutschland 1898 Kiaotschou und fagte Shangdong seinem Interessenbereich ein. Deutschland gehörte seitdem der Reihe der Kolonialmächte an, die die chinesischen Territorien in ihre Einflussspharen aufteilten. Jedoch war die Entwicklung der chinesischdeutschen Beziehungen insgesamt positiv. 1917 sagte Dr. Sun Yat-sen, die deutschen imperialistischen Ambitionen zu China seien am geringsten. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte Deutschland China zu überreden versucht, sich neutral zu halten. Die Gegenleistung dafür wäre die Rückgabe yon Kiaotschou. Unter dem Druck und Zwang von anderen Kolonialmächten, insbesondere von Japan, hatte China diesen Vorschlag verweigert. Im August 1917 erklärte China Deutschland den Krieg. Im September 1919 wurde der Kriegszustand zwischen China und Deutschland far beendet erklärt. Im Juli 1920 entsandte Deutschland eine Delegation nach China, die mit China über die Wiederherstellung der bilateralen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen verhandelte.17 Am 20. Mai 1921 wurde die chinesisch-deutsche Vereinbarung zur Wiederherstallung des Friedenszustandes unterzeichnet.  Gemäss  dieses  Vertrages  verzichtete Deutschland auf alle exterritorialen Privilegien in China, erkannte die chinesische Zollhoheit an und gab alle Vorrechte in Shandong auf. Damit war Deutschland der erste Staat Europas, der China als gleich berechtigten Partner anerkannte.18

 Darüber, ob sich dieses Ereignis auf die Übemahme des deutschen Rechts in China ausgewirkt hatte, besteht im Schrifttum Streitigkeit. Mancher ist der Ansicht, dieses Ereignis habe positive Einflüsse dar auf genommen, dass die Republik China des deutsche Zivilrecht rezipiert.19 Andere giauben, die Rezeption deutschen Rechts sei gerade der Tatsache zu verdanken, dess Deutschland nicht mehr dem Kreis der Kolonialmächte angehörte, die in China Privilegien hatten, dass Deutschland also in der internationalpolitischen Tribüne keine grosse Rolle mehr spielte; das Recht eines derartigen Landes könne China ruhig üJbernehmen, ohne etwa zu befürchten, mit der rezipierten Rechtsordnung einer Grossmacht auch in deren politische Einfiusssphäre und Kontrolle zu geraten.  20

M. E. hängt die Übernahme deutschen Rechts in der Republikzeit ebensowenig von der freundlichen politischen Haltung Deutschlands gegenüber Chinas ab, wie der Verfasser des Ersten Entwurfes bei dessen Ausarbeitung sein Augenmerk nicht oder zumindest nicht in entscheidendem Masse an den Machtfaktor Deutschlands gerichtet hatte. Dass China das deutsche Zivilrecht bei der Gesetzgebung vorzog, lag nicht an der politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Macht, die Deutschland gehabt hatte oder noch hatte. Die Ursache soll man vielmehr in dem Rezeptionsgegenstand selbst suchen. Mit anderen Wor ten, man soil die Frage von der Rezipierbarkeit oder ron den Vorzügen des deutschen BGB heraus erklären. Die Rezeption deutschen Rechts war also keine Machtfrage, sondern eine Qualitätsfrage.

Als man den Ersten Entwurf ausarbeitete, standen seinem Verfesser drei Gesetzbücher zur Verfügung: des franzüsische  Code civil von 1804, das japanische BGB  von 1898 und das deutsche BGB von  1900. Der Verfasser des Zweiten Entwurfas  konnte darüber hinaus  auf das Schweizerische Zivilgesetzbuch zurückgreifen. Im Vergleich zum französischen Code civil, das zu der Zeit bereits über hundert Jahre alt war und für den chinesischen Gesetzgeber deshalb nicht mehr die neuesten und modernsten Zivilrechtsgrundsätze und Zivilrechtsnormen verkörperte, das darüber hinaus mit seinem vielfältigen Fallrecht schwer durchschaubar und nicht leicht rezipierbar war, sah man im deutschen BGB viele positive Entwicklungen. Sowohl gesetzessystematisch und gesetzestechnisch, als auch was die Ordnung der Rechtsmaterie, die Genauigkeit der Begriffe anbelangt, hielt man das deutsche BGB qualitativ for das beste Gesetzbuch der Zeit. 21

Wirkungen der Rezeption

Die Rezeption des deutschen Ziviirechts bedeutete eine Transplantation der westlichen Zivilrechtskuitur in China, welche sich von der chinesischen Tradition grundlegend unterschied. Des rezipierte Recht war also vom Wesen her ein total fremdes Recht. Die Rezeption musste deswegen unvermeidlich zu Konfiikten zwischen dem überlieferten chJnesischen Recht und dem übernommenen westlichen Recht führen. Welche Folgen hatte dieser Konfiikt verursacht? War das rezipierte deutsche Zivilrecht also auch wirklich ausgeführt worden?

Der Erste Entwurf wurde zwar fertiggestellt, abet er wurde nicht einmal veröf- fentlicht oder gar verkündet. Er wurde also weder formell zum Gesetz, noch karo er tatsächiich zur Geltung. Zwar wurde nach der Gründung der Republik von verschiedenen Verfassungsorganen mehrfach beschiossen, dass die kaiserlichen Gesetze weiterhin gelten sollten.22 Jedoch wurde der Erste Entwurf entweder ausdrücklich oder stillschweigend ausgenommen. AIlerdings vermutet man, dass manche Vorschriften dieses Entwurfes, welche den vernünffigen Rechtstheorien entsprächan und mit dem neuen Staatswesen nicht in Widerspruch stünden, for das Oberste Gericht der Republik China de facto als "Rechtssätze" bei der Rechtsprechung gegolten hatten? Noch welter geht Prof. Karl Bünger. Er ist der Ansicht, des Oberste Gericht der Republik China sei bei der Rechtsfindung bewusst oder unbewusst dem Grundsatz gefolgt, dass der Richter beim  Fehlen  einer Gesetzesvorschrift nach dem Gewohnheitsrecht, bei dessen Fehlen nach den Rechtssätzen zu ent scheiden habe; da es in dieser Zeit außerordentlich wenige bürgerlichrechtliche Gesetzesvorschriften gebeb, da darüber hinaus das Gericht die Gelegenheit der Untersuchung der Sitten und Gewohnheiten nicht aktiv wahrnehme, seien viele Bestimmungen des Ersten Entwurfes defacto als "Rechtssätze" angewandt worden?24

Im Vergleich zum Ersten Entwurf wurde der Zweite Entwurf am Ende 1925 veröffentlicht. Er wurde aber ebenso nicht zum Gesetz. Wie oben bereits erwähnt, forderte das Justizministerium der Zentralregierung in einem Bescheid im November 1926 die unteren Gerichte auf, bei der   Rechtsprechung den Zweiten Entwurf als Rechtssätze anzuwenden.25

Dies zeigt, dass die beiden Entwürfe zwar  nicht   des   Gesetzgebungsverfahren durchlaufen hatten und nicht als verbindli- che Gesetzestexte in Kraft gesetzt gewor- den waren, ihre Inhalte wurden jedoch als "Rechtssätze" mehr oder weniger praktiziert. Insofem könnte man annehmen, dass sich des geltende Zivilrecht der Republikzeit nicht in überlieferten Normen der Kaiserzeit erschöpfe, sondem es verschmelze auch noch das rezipierte Recht mit seinen Normen und Grundsätzen. Wirft man einen Blick auf die Rechtsprechung und Interpretationen des Obersten Gerichts, 26 so kann man diesen Eindruck leicht bestätigen.

Anders als die belden Entwürfe zum Zivilgesetzbuch hatte das CBGB alle Gesetzgebungsverfahren durchlaufen und wurde als formelles Gesetz in Kraft gesetzt. Damit hatte sich die Rezeption zumindest formal abgeschlossen.

Über die Praktizierung des rezipierten Rechts in der chinesischen Gesellschaft fehlen bislang systematische Untersuchungen. Einigkeit besteht darüber, dass das rezipierte Recht nicht zum "lebendigen" Recht geworden sei; es sei nichts anderes als ein "Papierrecht". 27

Folgende Gründe dürften hierfür aus schlaggebend gewesan sein. Vor allem fehlten for die Umsetzung des rezipierten Zivilrechts die äusseren Voraussetzungen. Die ersten Jahre der Republik waren von dauernden inneren Kämpfen zwischen den Iokalen Warlords gekennzeichnet. Selbst nachdem sich die Guomindang-Regierung 1927 in Nanjing weitgehend stabilisiert hatte, hatte sie nie ganz China wirksam kontrollieren können. Der Bürgerkrieg kam nicht zu Ende. Anschliessend kam die japanische Aggression, und der anti-japanische Krieg dauerte 8 Jahre lang. Nach dem Sieg über die japanischen Aggressoren schloss sich der dreijährige Bürgerkrieg an, bis die Guomindang-Regierung 1949 den Krieg verlor  und sich nach Taiwan absetzte. Unter diesen  autßerordentlichen  Verhältnissen konnte die Regierung ihr Augenmerk verständlicherweise nicht etwa auf die Ausführung der Gesetze, auf den Rechtsaufbau, auf die Pfiege der Rechtsstaatiichkelt, auf die Förderung der rechtswissen schaftlichen Forschungen und auf die Ausbildung von Juristen legen.  Darüber hinaus stellte sich das rezipierte Zivilrecht for chinesische Verhältnisse als ein total fremdes Recht dar. Während das deutsche BGB auf einer bereits existierenden Bürgergesellschaft und entwickel ten Marktwirtschaft fußte und sich mit seinet individuaiistischen und liberalistischen Grundhaltung zum Ziel setzte, die einzelnen Rechte und Freiheiten der Rechtssubjekte zu schützen, war in den grössten Teilen des halbkolonialen und halbfeudalen Agrarlandes China eine Bürgergeseli schaft und eine einigermassen funktionierende Marktwirtschaft nicht vorhanden. Hier nahm nach wie vor überwiegend die Familie, und nicht das einzelne Individuurn, als Rechtssubjekt am Rechtsverkehr tell. Femer karo die ganz andere Auffassung der Chinesen zum Recht und Gesetz hinzu. Seit jeher verstand sich das Fa (Recht, Gesetz) in China als ein Instru- mentarium, mittels dessen der Herrscher das Volk einseitig beherrschte, kontrol- lierte oder unterdrückte. Das chinesische Recht vereinigte denn auch alle Rechts- gebiete in sich, unterschied also insbe- sondere nicht zwischen Zivil-und Strafrecht. Völlig fremd wirkte deshalb das re- zipierte Zivilrecht, das nach seiner Grund- vorstellung die Beziehungen zwischen den gleichberechtigten Subjekten regelt und jedem Individuum die subjektiven Rechte und Freiheiten gewährt und sichert. Bei derarMg diskrepanten Grundideen und Wertorientierungen zwischen dem rezipierten und überlieferten Recht konnte das Gesetz natüdich nur äußerst schwer durchgeführt worden.

Schließlich konnte sich das rezipierte Recht nicht auf einen unabhängigen Juristenstand sowie auf eine reife Rechtswissenschaft stützen. China kannte seit jeher keinen unabhängigen Juristenstand. Es gab weder Richter, welche sich ausschließlich mit der Rechtsprechung beschäftigt, noch Rechtsgelehrte, welche sich auf den Betrieb der Rechtswissenschaften spezialisiert hätten. Dies hatte sich auch nach der Inkraftsetzung des CBGB nicht grundlegend geändert. Es wurden äußerst selten Lehrbücher, Kommentare, Monographien, Aufsätze und Fachzeitschriffen  herausgegeben.  Gerichte hatten kaum Fälle veröffentlicht. Das rezipierte Recht, das auf einer eige- hen Begriffsbildung und Logik beruhte und sich durch  abstrakte  Formulierungen kennzeichnete, vedor so seine Trägerschaft. Der Gesetzestext war nicht einmal für Richter, Beamten und Rechtsanwälte leicht verständlich, geschweige denn for die normalen Bürger, für die das Gesetzbuch eigentlich gedacht war.28

Verdienst der Rezeption

Wenn nun festgestellt worden ist, dass das rezipierte Zivilrecht insgesamt lediglich Papierrecht blieb und keine tatsächlichen Wirkungen gezeigt hatte, so soil das historische Verdienst der Rezeption nicht in Frage gestellt werden. Rechtssoziologisch stellt sich die Rezeption als ein Verfahren dar; ein Verfahren, bei dem sich die einheimische Rechtskultur mit der rezipierten, fremden Rechtskultur berührt, mehrfach  misst  und  allmählich  verschmilzt. Das Verfahren kann unter Umständen sehr lange währen. Es kann auch Komplikationen, Verwicklungen, Wiederholungen und Rückschritte geben. Es wä- re leichffertig, aufgrund der Tatsache, das rezipierte Recht hat sich in einer besondeten historischen Umwelt nicht zum lebendigen Recht entwickelt, der Rezeption insge- saint ihr Verdienst zu nehmen.

Die Rezeption im alten China hatte knapp ein halbes Jahrhundert gedauert. Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 wurden alle bisherigen Gesetze abgeschafft. Die Kommunistische Partei Chinas hat aus wohlbekannten Gründen einen anderen Entwicklungsweg eingeschlagen. Seit Ende der 70er Jahre wird die Politik der Öffnung und Reform eingeleitet. Man wird auf einmal mit den gleichen oderähnlichen Problemen konfrontiert wie vor 80 Jahren. Es wird deshalb zunehmend mehr Gewicht auf den Rechtsaufbau gelegt.  Beträchtliche  Errungenschaften sind auch erzielt worden. Beim Rechtsaufbau  haben  wir  wiederum ausländische Gesetze  als Vorbilder heranziehen müssen. In der Tat ist m. E.  unsere Gesetzgebung seit 1979 nichts anderes als eine Fortsetzung der Rezeption westlichen Rechts.29 Heute, wiederum, beim Jahrhundertwechsel, wie vor Hundert Jahren, Iässt das chinesisches BGB immer noch auf sich warten.  Chinesische Juristen fühlen sich dazu berufen, die neuesten und modernsten ausländischen Erfahrungen auf dem Gebiet des Zivilrechts zu sammeln, zu sortieren, sich zu eigen zu machen und schliesslich ein chinesisches BGB fertigzustellen. Die anste- hende Kodifikation des bürgerlichen Rechts bedeutet also im Grunde ge- nommen eine Vollendung der Rezepti- on, die am Anfang dieses Jahrhunderts in die Wege eingeleitet worden war und Jahrzehnte lang gedauert hatte. In die- sero Sinne kann man heute das historische Verdienst der Rezeption deutschen Zivilrechts in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gar nicht aberschätzen.

Durch die Rezeption fremden Zivilrechts wurde in China erstmals das Zivilrecht als ein völlig neues Rechtsgebiet ge- schaffen. Die traditionelle chinesische Rechtskultur war hauptsächlich straf- rechtlicher Natur und vereinigte alle Rechtsgebiete in sich. Sie machte insbesondere keinen  Unterschied  zwischen Strafund Zivilrecht. Trotz einer großen Fü11e zivilrechtlicher Normen in allen Dynastien konnte das Zivilrecht nie zu einem einigermassen selbständi- gen Rechtsbereich erstarken. Durch die Rezeption wurde der Rechtsbegriff Zivilrecht" selber eingeführt, mit dem Begriff auch die Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und privaten Recht. Dies bedeutete weiterhin das Ende des traditionellen feudalen Rechtssystems und gleichzeitig den Anfang eines neuen, modernen Rechtssystems.

Mit der Rezeption deutschen Zivilrechts wurde also das Verfahren der Annäherung oder der Angleichung des chinesischen Rechtswesens an das der modernen kapitalistischen Staaten in die Bahnen eingeleitet. Mit der Einführung und Errichtung des Zivilrechts  als  eines  selbständigen Rechtsgebiets drangen ferner die Zivilrechtsgedanken  und -vorstellungen mehr oder weniger in das Bewusstsein der Chinesen ein. Das Zivilrechtsbewusstsein der Chinesen wurde allmählich aufgeweckt.  Insbesondere hatte das CBGB als eine "Schöpfung über die Zeit hinaus" grosse Beiträge dazu geleistet, dass Grundsätze und Gedanken des Zivilrechts wie die Gleichberechtigung aller Rechtssubjekte (insbesonde- re Mann und Frau), das selbständige Persönlichkeitsrecht des Individuums, die Eigentumsfreiheit, die Privatautonomie (insbesondere die Vertragsfreiheit und die Gewerbefreiheit), die Eheund Testierfreiheit, das verschuldensabhängige Haftung u.a.m, verbreitet wurden. Obwohl das CBGB nicht im ganzen Lande tatsächlich zur Geltung gekommen war, so wurde in den von der Regierung wirksam kontrollierten und wirtschafflich entwickelteren Regionen doch eine ordnungsmässige Zivilgerichtsbarkeit errichtet. Das Zivilrecht funktionierte und hatte durchaus positive Auswirkungen auf die gesell- schafflich-wirtschaffliche   Entwicklung gehabt.30 DJese Tatsache Jhrerseits war ohne ein gewisses Zivilrechtsbewusst- sein der Rechtssubjekte nicht vorzu- stellen.

Darüber hinaus wurde mit der Rezeption des Zivilrechts auch die Zivilrechtswissenschaff übemommen. Wie oben erwähnt, kannte China seit jeher keine selbständige Rechtswissenschaft, also auch keine  Zivilrechtswissenschaft. Obwohl man selbst nach dem Inkrafttreten des CBGB nicht von einem selbständigen Juristenstand reden konnte, obwohl die Zivilrechtswissenschaff auchäusserst unterentwickelt war, so zeigten die ersten Diskussionen bei der Rezeption westlichen Rechts bereits moderne zivilrechtswissenschaftliche  Zeichen, unterschieden sich doch die Grundvor- stellungen, die angewandten Begriffe und die Methode wesentlich von vorher.31 Während der gesamten Rezeption wurdenohne Unterbrechungen --ausländische Gesetzestexte und juristische Werke ins Chinesische übersetzt, juristische Fachieute ausgebildet, zivilistische Theorien erforscht oder Gewohnheiten vor Ort untersucht. Selbst während der Herrschaff der Kriegsgeneräle in Nordchina wurden die Vorle- sungen zum Zivil-und Handeisrecht in den Hochschulen weiter gehalten; Behörden hatten die Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe  nicht  unterbrochen; Professoren batten sich weiterhin mit der Zivilrechtswissenschaff beschäftigt. Man kann also sagen, dass mit der Rezeption des Zivilrechts auch die moderne Zivilrechtswissenschaft in China zum Zuge kam.

Schliesslich hatte China nicht nur das materielle Recht, sondern auch die Methodik rezipiert. Insbesondere das pandektistische Kodifikationsmodell und die Ausklammerungsmethode wurde seit dem Ersten Entwurf nie richtig bezweifelt. Dies wirkt bis heute immer noch fort.32 Insofernüberwiegen tatsächlich die deutschen Einfiüsse in der Methodik, mehr denn die im Gegenständlichen. "Der sachliche Inhalt veräindert sich oder vergeht……Die Methodik wird aber überdauern und bestehen."33

Fußnoten:

1Chinesisches Original aus Yang Honglie, Zhongguo falu fada shi (Entwicilungsgeschichte   des   chinesischen Rechts), Band 2, Nachdruck 1990, Shanghai, S. 872. Deutsche Übersetzung bei Ulrich Manthe, Bürgerliches Recht und bürgerliches Gesetzbuch der VR China, Jahrbuch für Ostrecht, Band XXVIII/1 (1987), S. 13.

2Chinesisch-amerikanischer Vertrag zur Fortsetzung des Handels und Schiffs verkehrs vom 8. 10. 1903; chinesisch japanischer Vertrag zur Fortsetzung des Handels und Schiffsverkehrs vom 8.10. 1993; chinesischer-portugiesischer Handelsvertrag vom 11. 11. 1904. Abgedruckt in Wang Tieya, Zhongwai jiu yüzhang huibian (Sammlung von alten Abkommen und Verträgen zwischen China und Ausland), 2. Aufiage Beijing, 2. Band, S. 188, 194 sowie 256.

3 Vgl. hierzu den Bericht von Ministern Yu Liansan und Liu Ruozeng an den Kaiser vom 5. September 1911. Zitiert nach Yang Honglie, a.a.O., S. 906 f.

4Vgl. Karl Bünger, Des neue chinesische BGB. Seine Entstehungsgeschichte und  Systemafik, Blätter für Internationales   Privatrecht (BllntPr.), November 1931,  6. Jahrgang, Nr. 11. München, Berlin  und Leipzig, Spalte 257. (im folgenden  zitiert als,,Karl Bünger, 1931")

5 Vgl. Karl Bünger, 1931, Spalte 260.

6 Vgl. Ulrich Manthe, a.a.O., S. 13.

7 Vgl. Ye Xiaoxin, Zhongguo Minfa shi (Geschichte des chinesischen  Zivilrechts), Shanghai, 1993, S. 608.

8 Uber die Einflüsse des deutschen Zivilrechts gibt es klassische Ansichten, die häufig zitiert werden. So sagte der berühmte Zivilrechtler der Republikzeit Mei Zhongxie' "Des geltende Zivilgesetzbuch hat zu 60 bis 70% des deutsche Recht, zu 30 bis 40% des schweizerische Recht,  übernommen. Vom französi schen, japanischen und sowjetischen Recht wurde auch jeweiis zu 10 bis 20% übernommen." (Vorwort des Autors in,Grundzüge des Zivilrechts"; zitiert nach Xie Huaishi, Untersuchungen zu  den Zivilgesetzbüchern  des  kontinentalen Rechtskreises, in: Übersetzungen und Kommentare zum ausländischen Recht, 4/1994, S. 17.) Wu Jingxiong, der an der Gesetzgebung mitgewirkt hatte, führteaus: ,Studiere man das neue Bürgerli, che Gesetzbuch vom ersten Paragraphen bis zum Paragraphen 1225 genau, und vergleiche man sie mit denen des deutschen BGB sowie des schweizerischen Zivilgesetzbuchs und Obligationenrechts, dann wird man aberrascht  sein, dass 95% unseres Gesetzbuchs von den obengenannten Gesetzbachern übernommen sind, entweder in der ursprünglichen Fassung oder in veränderter Form." (Zitiert nach Ye Xiaoxin, a.a.O., S. 615; vgl. auch Wang Tzechien, Die Aufnahme des europäischen Rechts in China, in: AcP 166, S. 344.) 9 Li Jingxi, Lin Guangzu, Taiwan minshang fa yanjiu (Untersuchungen zum Zivii- und Handelsrecht Taiwans), Beijing, 1996, S. 23.

10Karl Banger, 1931, Spalte 267.

11Ebenda.

12Vgl. Karl Bünger, Die Rezeption des europäischen Rechts in China, in: Ernst Wolff (Hrsg), Beiträge zur Rechtsforschung.  Sonderveröffentlichung  der Zeitschrift für ausländisches und internationales   Privatrecht,   1950, S. 178.(fortan zitiert als  ,Karl  Bünger 1950“)

13Vgl. Ii Shuguang, Zhongguo falu xiandaihua jige wenti de tantao (Erörterungen zu einigen Fragen der Modernisierung des chinesischen Rechts), in: Zhang Jirffan (Hrsg.), Zhongguo falu de chuantong yu xiandaihua (Traditionen und Modemisierung des chinesischen Rechts), Beijing 1996, S. 165.

14Qingmo choubei lixian dangan shiliao (Archiv und Dokumente hinsichtlich der vorbereitenden Verfassungsgebung Ende der Qing-Dynastie), S. 7 f.

15Ebenda, S. 55.

16Paul Koschaker, Europa und des römi sche Recht, 2. Aufiage, 1953, S. 138. Zitiert nach Konrad Zwigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, 3. Auflage 1996, S. 98 )

17Siehe hierzu Anna Wang, Deutschchinesische Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Materialien zur Geschichte der Neuzeit, Beijing 1983, S. 122 und 123.

18Vgl. Harro yon Senger, Einführung in das chinesische Recht, München 1994, S. 12 (insbesondere Fussnote 8 und 9).

19Vgl. Harro von Senger, a.a.O., S. 12 (Fussnote 9).

20Vgl. Karl Bünger, 1951, S. 179.

21Vgl. Karl Bünger, ebenda, S. 178 (,Die Rezeption des deutschen Rechts in China erfolgte vielmehr deshalb, weil man es für qualitativ gut, technisch am weitesten durchgebildet und für leicht akzeptabel hielt."); Ulrich Manthe, a.a.O., S. 14 (,Man hat im wesentlichen des deut-sche bürgerliche Recht übernommen, well man es für das beste hielt.'); Wang   Tze-chien, a.a.O., S.347 (.Es handelte sich nicht um Machtpolitik. Es handelte sich vieimehr um einen Akt aufrichtiger Bewunderung, nicht nur für die inhaltlichen Fortschritte des deutschen BGB im Vergleich zum französischen Code civil, sondern auch für den darin zum Aus druck kommenden Geist der deutschen klassischen  Philosophie  mit  ihrer Schärfe der Begriffsbildung, ihrer souveränen Methodik und ihrem eindringlichen    Wissen um die Objekte.").

22Die Provisorische Regierung in Nanjing beschloss unmittelbar nach ihrer Gründung die Weitergeltung der kaiserlichen Gesetze. Am 3. April 1912 stimmte der Parlament zu, dass von den kaiserlichen Gesetzen des Gerichtsverfassungsgesetz, die Zivil- und Prozessordnung, das Handelsgesetz,  des  Ordnungswidrigkeitsgesetz und des neue Strafgesetzbuch weiterhin gelten. 1914 äusserte des Oberste Gericht in einer Rechtsprechung (Aktenzeichen Berufung Nr. 304), dass das kaiserliche Strafgesetzbuch welter gelte, ausgenommen seien die  Bestimmungen hinsichtlich der Sanktionen sowie diejenigen Vorschriften, die mit dem neuen Staatswesen nicht vereinbar wären. Vgl. hierzu Zhang Guofu, Zhonghua Minguo fazhi jianshi (Kurze Rechtsgeschichte der Republik China), Beijing 1986, S. 87; Yang Honglie, a.a.O., S. 1057.

23Vgl. Yang Honglie, a.a.O., S. 1057.

24Karl Bünger, 1931, Spalte

25Oben Fussnote 7.

26Diese sind vollständig aufgelistet bei Yang Honglie, a.a.O., S. 1168 ff.

27Vgl.  etwa folgende charakteristische Ausführungen: ,Insgesamt ist also zu sagen, dass dem rezipierten Recht insoweit der Erfolg versagt worden ist." (Karl Banger, 1950, S.181.); .Die Übernahme des mitteleuropäischen bürgerlichen Rechts blieb auf dem chinesischen Festland allerdings ohne Erfolg.“ (Ulrich Manthe, a.a.O., S. 15.); ,In den meisten rückständigen Regionen bestand für das gemeine Volk kein üblicher rechtsschutz im modernen Sinne."(Huang Jingjia, Ben shiji Iai Zhongguo fazhi zhi xiandaihua yu Taiwan fazhi zhi fazhan (Die Moder  nisierung des chinesischen Rechtswesens und die Rechtsentwicklung in Taiwan in diesem Jahrhundert), in: Zhang Jinfan (Hrsg.), a.a.O., S. 62.).

28Vgl. Robert Heuser, Chinas Weg in eine neue Rechtsordnung, JZ 1988, S. 897 (Fussnote 33).

29Liang Huixing bezeichnet die Gesetzgebungen seit 1980 als ,Gesetzgebungsrezeption". Diese sei noch nicht abgeschlossen und werde in den nächsten 50 Jahren vollendet. Siehe ,Bericht über  des Seminar zum Rück-und Ausblick der chinesischen Rechtswissenschaff im 20  Jahrhundert",  in:  Faxü  Yanjiu (Rechtswissenschaftliche Forschungen),  Beijing, 5/1997, S. 156 und S. 159. Zhang Jinfan nennt den sozialistischen Rechtsaufbau seit 1979 die Fortsetzung der Anfang dieses Jahrhunderts unvoliendeten Rezeptionssache. Allerdings sei  dies keine einfache Wiederholung. Es geschehe unter neuen Bedingungen und auf höherem Niveau. Vgl. seinen Beitrag in  Nanjing  University  Law  Review, 1/1998, S. 71.

30Vgl. Huang Jinjia, in: Zhang Jinfan (Hrsg.), a.a.O., S.62.

31Vgl. die Ansicht von Zhang Shaoyu, Siehe, Bericht über des Seminar zum Rück-und Ausbiick der chinesischen Rechtswissenschaft im 20 Jahrhundert", in: Faxü Yanjiu (Rechtswissenschaftliche Forschungen), Beijing, 5/1997, S. 157.

32Vgl. Xie Huaishi, a.a.O. (oben Fussnote 8), S. 17 (besonders Fussnote 39).

 33Wang Tze-chien, a.a.O., S. 347.

 

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